Als das gute alte Marketing noch eine komfortable Disziplin für redegewandte Lebemänner war, war auf vieles Verlass: Stetes Wachstum, steigender Konsum und vor allem ungetrübte Kaufkraft. Das hat sich alles leider fundamental geändert. Heute gleicht Marketing eher einer Achterbahnfahrt, die scheinbar nur von schwindelfreien Raketenwissenschaftlern gemeistert werden kann.
Allein die letzten zwei Jahre haben die schöne heile Marketingwelt in ihren Grundfesten erzittern lassen. Erst brachte eine nie für möglich gehaltene Pandemie die Weltwirtschaft zum Stillstand, bevor wir nahtlos in eine Rezession abgeglitten sind und nun ein „Great Reset“ unausweichlich scheint. Dazu haben politische Unruhen und geopolitische Konflikte von der Ukraine bis nach Taiwan ein bedrohliches Potenzial erreicht und global vernetzte Wertschöpfungsmodelle werden damit grundsätzlich in Frage gestellt. Als ob das noch nicht genug für eine Marketing-Achterbahnfahrt wäre, sind auch noch ein paar selbst gemachte Nebelbomben geworfen worden: Das Metaverse, welches zunächst mal ein grandioses Ablenkungsmanöver für Facebook Investoren ist. Schließlich ist es die nächste große Wette für den nächsten erfolgreichen Pivot zum nächsten River of Revenue, der wie von ferner Hand gelenkt natürlich auf den Innovationsfeldern „Virtual & Augmented Reality“ basiert, in die bereits massiv Investorengelder investiert wurden. Ein Schelm, wer bei dieser Perspektive böses denkt und clever allemal, was sich die Talentschmiede Meta als Move für die Zukunftsfähigkeit des Konzerns ausgedacht hat. Google setzt mit gleichem Ziel auf Moonshot Ideas – kann aber bis dato noch kein Licht am Horizont vermelden. Gleichzeitig aber baut das Team um Sundar Pichai kontinuierlich die Google Maps Plattform zum digitalen Twin der physischen Realität aus und gewinnt damit ein um den anderen neuen User für das Google Metaverse, welches aber nie so heißen wird. Chapeau – auch ein guter Move, der zeigt, was Einblicke und Überblicke so alles preisgeben…
Ach ja – und dann waren da natürlich auch noch NFTs und das Web3 auf der Marketing-Agenda postpandemischer Zeiten. Inklusive derer MarTech Tools, die von eifrigen Start-Ups passend dazu entwickelt wurden. Sogar erste Agenturen der klassischen Werbegilde sagen ein enormes Disruptionspotenzial vorher und gründen eifrig Web3 Ableger, um ganz vorn mit auf der Welle zu surfen, die den nächsten River of Revenue verspricht. Zumindest für die Agenturgilde, denn mit NFTs bekommen jetzt sogar JPEGs einen Herkunftsnachweis, womit wir uns endlich wieder der Nutzungsrechtekompensation statt den stetig verfallenden Stundensätzen nähern. Insofern ist die Lobpreiserei der Werbeagenturen auf das Web3 und NFTs durchaus verständlich. Das der Begriff „Web3“ aber von Venture Capital Investoren erfunden wurde, um von den Betrügereien und massiven Verlusten in der Kryptowirtschaft abzulenken, ist eben ein so ganz anderer (Ein-) Blick auf den Sachverhalt. Inklusive des fantasievollen Versprechens einer Dezentralisierung des Social-Webs, was aber in Wirklichkeit nichts anderes werden soll als eine Re-zentralisierung von alten Besitzern unter neuem Namen.
Last but not least: Der Dauerbrenner „Blockchain“. Eine zugegeben echte technologische Innovation für verteilte Daten, die das Potenzial hat, das Geschäft mit dem bezahlten Vertrauen – auch Banking genannt – obsolet werden zu lassen. Die entscheidende Frage wird aber sein, ob es beim Potenzial bleibt? Fakt ist, dass die Blockchain bei der Transaktion von statischen und hochwertigen Waren (Geld, Verträge, etc.) unschlagbare Effizienzen birgt. Im Marketing-Alltag jedoch, bleibt sie bis dato eher untauglich, denn hier geht es im programmatischen Performancebusiness eher um Echtzeit Transaktionen mit geringem Einzelwert und hohem Volumen, bei denen Latenz und Kosten die einzigen ausschlaggebenden Faktoren sind.
Es war also ganz schön was los auf der Marketing-Achterbahn der letzten Monate und Jahre. Wobei der Ausblick nicht minder turbulent ausfällt: Weiterhin werden Budgetkürzungen die Regel sein. Das wiederum trennt die Spreu vom Weizen im Marketing-Management mit brutaler Härte, denn nur die wahren Könner, welche das technologische Potenzial des Marketing Engineerings heben, werden auch mit gekürzten Budgets weiterhin outperformen. Die Atomisierung und zeitgleiche Bündelung von MarTech Applikationen, deren Automatisierungsoptionen und Prozessveränderungspotenziale sowie die exponentielle Entwicklung der Data-Driven Technologies auf Basis künstlicher Intelligenz überfordern die meisten Marketing-Abteilungen und deren Managements kolossal. Während noch mit den Auswirkungen der Achterbahnfahrt der Märkte gekämpft wird, rufen die Unternehmenslenker bereits nach schwindelfreien Raketenwissenschaftlern, die das Marketing trotz ungebremster rasanter Looping Fahrt zurück in die Spur als Wachstumsmotor bringen. Leistung sticht also längst Kreativität und neue Marketing-Talente für die unbekannte globale Wirtschaft von Morgen sowie Technologie von Übermorgen sind gefragte Mangelware.
Wo fängt Zukunft an - wo hört Herkunft auf?
Laut Chiefmartec und MartechTribe Präsentation über das „Big Picture“ für MarTech 2023 sind die großen Herausforderungen nach wie vor der Gap zwischen technologischem Fortschritt und menschlicher Adaptionsfähigkeit sowie die Balance zwischen der Atomisierung der MarTech Anbieter Landscape einerseits und der Zusammenführung bestehender Features und Anwendungen in einer Applikation andererseits. Die erste Challenge ist dabei eher ein ganz menschliches Problem mangelnder Selbstreflektion in Kombination mit Neid, Gier, Eitelkeit und Eifersucht. Denn welcher Marketing-Manager oder auch Unternehmenslenker gibt schon gern zu, dass die Kernkompetenz an Beherrschung von Komplexität eine Maschine deutlich besser kann? Insofern wird also diese Herausforderung dazu führen, dass wir vorhandene Technologieoptionen erst deutlich später akzeptieren und einsetzen, als es möglich wäre. Die von Chiefmartec gezeigte aktuelle Gegenüberstellung von meist genutzter und meist gemochter MarTech zeigt das beeindruckend.
Hiernach wird MarTech nach wie vor am meisten für Search, Social Advertising, CMS, Websites, Display und Programmatic eingesetzt. Allesamt Disziplinen, die längst in die Jahre gekommen sind und auf deren Spielfeldern nach wie vor mit großem Wettbewerb um kleine Vorteile gebuhlt wird. Auf der Lieblings-Martech Liste der Marketers steht wiederum Sales Automation, Data Integration, Mobile Analytics und Collaboration, was quasi den Ruf nach zählbaren Ergebnissen und nachweislicher Marketing-Leistung aus den Vorstandsetagen der werbetreibenden Konzerne spiegelt. Wer diesen Überblick auf die Tanzfläche der MarTech Arena hat, wird schnell erkennen, dass die Marketing-Abteilungen zwar alle wie verrückt Saturday MarTech Fever tanzen, aber selbst die eifrigsten „John Travoltas“ keinen Gedanken daran verschwenden, der über den Tellerrand des Status Quo geht. Die damit einhergehende Verzögerung bei der Anwendung neuster MarTech wird aber keinesfalls dazu führen, dass MarTech sich nicht trotzdem rasant weiterentwickelt. „Denn bist du nicht willig, so hab ich Geduld“, scheint hier der vorgeschriebene Weg von MarTech zu sein, genauso wie Prof. Dr. Kruse bereits 2011 im Bundestag diesen Satz zur kommunikativen Macht von sozialen Netzwerken anmerkte.
Die zweite Herausforderung laut Chiefmartec Big Picture wird die Kunst der Balance zwischen der Explosion der MarTech Tools für immer detaillierte Prozesse einerseits und der Konsolidierung von Funktionen in einer übergreifenden MarTech Suite andererseits sein, welche durch sogenannte MACH Architects erst ermöglicht werden soll. MACH steht dabei für Micro-Services, API-first, Cloud-native und Headless, was wiederum die vorherrschenden Techologietrends in der kommenden MarTech Landscape laut Chiefmartec sein werden. So viel zum Einblick und Überblick auf Basis eines Rückblicks. Bleibt noch ein konkreter Ausblick für die kommenden Achterbahnfahrten der Marketing-Community.
KI macht Angst – gehört aber auf jede Marketing-Agenda.
Tatsächlich ist das technologische Wissen über künstliche Intelligenz bzw. deren Ingredients in Marketing-Kreisen mehr als beschränkt. Trotzdem redet jeder mit und alle haben die KI Checkbox ganz oben auf ihrer MarTech Agenda. Wobei die Top 10 Ergebnisbeiträge von AI Use Cases laut „State of Marketing and Sales AI Report 2022“ folgende Realität offenlegt:
- Messung des Returns on Investment (ROI) nach Kanal, Kampagne und insgesamt (3.95)
- Einblicke in die leistungsstärksten Inhalte und Kampagnen. (3.87)
- Empfehlungen von zielgerichteten Inhalten in Echtzeit an Nutzer (3.81)
- Zielgruppenansprache auf der Grundlage von Lookalike Audiences. (3.79)
- Website-Inhalte für Suchmaschinen zu optimieren. (3.77)
- Data-driven Content erstellen. (3.77)
- Kampagnenergebnisse auf der Grundlage prädiktiver Analysen vorhersagen. (3.73)
- Vorhersage der besten Werbemittel ohne A/B-Tests. (3.72)
- Leistungsberichte auf der Grundlage von Marketingdaten und Analysen. (3.71)
- Buyer Personas auf der Grundlage von Daten konstruieren. (3.68)
Vier dieser Use Cases drehen sich ums Thema Content – weitere vier um Analytics. Also sind wir auch hier weit entfernt vom technologisch machbaren. Denn next level AI innerhalb eines Graph Neural Networks ist längst in der Lage, ganze Wertschöpfungsketten über globale Netzwerkstrukturen hinweg zu analysieren und mittel „irregular Patterns“ echte Wertschöpfungspotenziale zu heben, statt sich auf die Suche nach Streuverlusten und Kontext-Passung innerhalb des Untersegments Marketing.-Kommunikation zu machen.
AI wird also vielmehr populäre, kleinere Schritte im Marketing Richtung Robotics auslösen. ChatGPT von OpenAI zeigt das recht gut, während die Google OpenSource Freigabe der neusten Tensorflow Quantum-Bibliotheken kaum ein Marketing-Manager zur Kenntnis genommen, geschweige denn das Potenzial darin erkannt hat. Wie allerdings AI gestützte Content-Producing-Robotics den Marketingalltag revolutionieren werden, haben wir bereits ausführlich in mehreren Blogbeiträgen beschrieben.
Checkbox 2: Data driven Marketing
Auch hier wird der Graben zwischen verfügbarer Technologie und realem Einsatz immer größer. Wobei die Buzzwords längst vergeben sind und alle Weißhemden gekonnt über CRMs, Customer Data Plattformen, Reverse ETL und Cloud Data Warehouses sprechen. Was es aber heißt, Big Data zu verstehen und zu analysieren, um daraus echte Mehrwerte bei einer automatisierten Personalisierung von Marketing Ansprachen zu entwickeln, ist den meisten Marketing-Verantwortlichen eher ein Rätsel. Meist wird es als „Secret Sauce“ bezeichnet, wenn die Botschaft den Zielkunden optimal erreicht. Die Voraussetzungen und damit auch größten Barrieren liegen bei dieser Übung in folgenden Punkten, laut Merkle´s Customer Engagement Report 2022:
Zusammengefasst geht es also um fehlende Schnittstellen, mangelnde Ontologie und skilled Talent Shortage. Die Probleme scheinen allgegenwärtig. Lösungen dafür umso seltener. Ob der so viel gehypte Trend an No-Code oder Low-Code MarTech-Applications dabei Abhilfe schaffen wird, bleibt abzuwarten. Fakt ist aber, dass große Hoffnungen an der Marketing-Front in No-Code/Low-Code Tools gehegt werden. Das fehlende technische Verständnis der Kreativbranche und ihrer Marketinggilde auf Kundenseite soll damit ein für alle Male überbrückt werden. Was aber wie das Licht am Ende eines Tunnels erscheint, kann auch hier schnell zum entgegenkommenden Zug werden. Wer meint, die Evolutionsstufe des Marketing Engineerings mittels No-Code überspringen zu können wird am Ende brutal von der Wirklichkeit überrollt werden. Zwar wird der Maschinenraum und sein TechStack irgendwann einer komplexen MarTech Matrix weichen müssen – aber damit wird die Orchestrierung und der Betrieb solch einer Matrix nicht zwangsläufig technisch einfacher. Auch hier sagt Chiefmartec einen Wandel zu MarTech Plattformen und Ecosystem voraus, in denen Services und Software zu Bundlings verschmelzen, die auf einer cloudbasierten Integration Plattform as a Service angeboten werden und durch unternehmens-individualisierte Applikationen differenzierte Marketing Outputs generieren. Das beschreibt dann auch den Schritt von der digitalen Marketing Transformation 1.0 zur anstehenden Version 2.0.: Aus dem Maschinenraum modernen Marketings, in dem Unternehmen und ihr Marketing Software von MarTech Anbietern nutzen wird eine Marketing Technology Matrix mit eigener Software Plattform. Das garantiert dann Hochleistungsmarketing mit weitgehenden Analytics, Automationen und Production-Robotics und kombiniert Tech, Daten und Content für individualisierte, automatisierte Ansprachen an allen relevanten Customer Touchpoints. Die MarTech Zukunft ist also hinlänglich bekannt – nur wann sie welche Stufe erreicht ist eine Frage des Marketing Engineerings und der Fähigkeit der handelnden Personen im Marketing, die eigene Komfortzone zu verlassen.